Hermann Hesse »Pater Matthias«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Matthias ist in seinem Kloster ein angesehener, geschätzter und beliebter Pater, der hin und wieder heimlich dem Kloster entflieht, wenn ihn das kontrollierte Leben zu erdrücken scheint. Er legt die Kutte für kurze Zeit ab, um in einem bürgerlichen Anzug einen Bummel durch die Welt zu machen. Eines Tages bekommt er den Auftrag für notleidende Bruderklöster im Süden Geld zu sammeln. Dabei wird er unter anderem bei der attraktiven und unabhängigen jungen Witwe eines Brauers vorstellig. Die beiden lernen einander zu schätzen. Nachdem Pater Matthias seine Mission beendet hat, stiehlt er sich einen freien Tag und fährt in eine nahegelegene Stadt, wo er sich einigermaßen sicher vor zufälliger Entdeckung glaubt, da die Mehrzahl der Bewohner protestantisch ist. Während eines Stadtbummels nach einem ausgiebigen Mahl in einem guten Restaurant wird Matthias von einem Mann angesprochen, der ihm vorschlägt, gemeinsam den Nachmittag bei einem Umtrunk zu verbringen. Der Mann führt Matthias in ein Lokal, in dem Matthias von ihm, der Kellnerin, die dem Pater schöne Augen macht, und drei weiteren betrunken gemacht wird. Am nächsten Morgen erwacht Matthias in einem ihm unbekannten Hotel und muß zu seinem Schrecken entdecken, daß ihm bis auf einen kläglichen Rest die Brieftasche gestohlen wurde, in der sich das für sein Kloster gesammelte Geld befand. Er ist bereit die Konsequenzen zu ziehen, aus dem Kloster auszutreten und das ihm gestohlene Geld durch Arbeit zurückzuerstatten. Bevor er jedoch zu seinem Kloster zurückreist, sucht er jene reiche Brauerswitwe auf, erzählt ihr seine ganze Misere und bittet sie um Rat. Sie verspricht ihm den bis zum nächsten Morgen. Während der Nacht denkt sie ausführlich nach und kommt zu dem Schluß, dem Pater das Geld nicht zu leihen, denn sie spürt eine viel zu enge Verbundenheit zwischen ihnen, sondern ihm zu raten, daß er sich den möglichen Konsequenzen stellen muß und ist ihm das gelungen, zu ihr zurückkehren darf. Der Pater akzeptiert den Rat und reist zu seinem Kloster zurück. Er berichtet, was ihm widerfahren ist, daß er bereit ist, das Geld zu erstatten und aus dem Kloster auszutreten. Jedoch will man es auf sich beruhen lassen und den Pater für einige Zeit in ein auswärtiges Kloster zur Buße schicken. Matthias besteht auf seinem Entschluß. Es wird sich zur Beratung zurückgezogen, doch wird nichts zur Lösung unternommen bis jener Mann, der Matthias beraubt hat, festgenommen und unter den Sachen, die er bei sich hat, auch Matthias’ Brieftasche und darin den Gepäckschein für den Koffer gefunden wird, in dem Matthias seine Kutte zur Aufbewahrung gegeben hat. Matthias gerät in den Verdacht der Mittäterschaft. Das Kloster läßt ihn fallen, man fürchtet in einen Skandal hineingezogen zu werden. Matthias wird der Prozeß gemacht. Zwar wird er von dem Verdacht mit jenem Mann gemeinsame Sache gemacht zu haben befreit, doch wird er wegen Veruntreuung von Klostergeldern zu einer Haftstrafe verurteilt. Matthias nimmt die Strafe mit einer gewissen Zuversicht an, denn an deren Ende wird die Brauerswitwe ihr Versprechen einlösen.

 

Hermann Hesse schrieb diese Erzählung eines Paters auf Abwegen 1910. Pater Matthias, ein lebensfroher beliebter hilfsbereiter Mensch »[–] im besten Alter [–]« leidet unter der Enge und dem strengen Reglement des Klosterlebens, obwohl er sich gerne für sein Kloster engagiert. »[–] Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend hatte ein Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in das Kloster geführt, wo er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung hinbrachte, bis die geduldige Zeit und die ursprünglich kräftige Gesundheit seiner Natur ihm Vergessen und neuen Lebensmut einbrachte. [–]« Matthias hat das Kloster demnach mehr als Flucht und – vermutlich – Selbstbestrafung gewählt als aus wirklicher Berufung. Dieses Dilemma scheint er nur teilweise überwunden zu haben, andernfalls würde er nicht immer wieder für kurze Zeit dem Kloster entfliehen wollen. Bezeichnend auch eine Überlegung, die er anstellt während er einen kleinen Zug Strafgefangener vom Fenster seines Arbeitszimmer aus beobachten kann. »[–] Jeder von diesen Gefangenen, dachte er, hat als ersehntes Ziel den Tag vor Augen, da er entlassen und wieder frei sein wird. Ich aber habe keinen solchen Tag vor mir, nicht nah noch ferne, sondern nur eine endlose bequeme Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden einer eingebildeten Freiheit unterbrochen. [–]« Er erkennt das Klosterleben als das was auch ist, eine Form von Gefängnis und seine »Ausflüge« als Selbsttäuschung.

Von den Erlebnissen seiner Reise um Spenden zu sammeln ist die Begegnung mit der Brauerswitwe von größerer Relevanz als der Raub, den jener Mann an ihm begeht. Daran daß sich zwischen der jungen Witwe und Matthias vom ersten Moment an tiefe gegenseitige Sympathie entwickelt, läßt Hermann Hesse keinen Zweifel. »[–] Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die beiden ein Gefallen aneinander. [–]« Hesse erklärt die Witwe am Ende dieses Gesprächs zum moralischen Sieger, das weltliche über das klösterliche.

Matthias geht dem Betrüger auf fast rührend naive Weise ins Netz, was als Seitenhieb auf die Weltfremdheit der Klosterangehörigen zu verstehen ist. Als Matthias den Raub der Klostergelder bemerkt, scheint er fast erleichtert, daß sein Doppelleben nun offenbar wird. Er stellt fest, daß er zwar viele Mitbrüder in seinem Kloster hat aber keinen Freund, denn er bräuchte unbedingt jemanden, an den er sich vertrauensvoll wenden und um Rat fragen kann. Ihm fällt nur die Witwe ein und zu ihr fährt nach kurzem Überlegen. Er erzählt ihr alles und sie stellt ihm für den nächsten Tag einen Rat in Aussicht.

Nach einer durchwachten Nacht während der sie die Beziehung zwischen sich und dem Pater von allen Seiten betrachtet, wird sie sich bewußt, daß zwischen ihnen eine tiefere Beziehung besteht. Sie könnte ihm problemlos den geraubten Betrag ersetzen und ihm so ermöglichen, unbescholten aus der Affäre zu kommen und in allen Ehren dem Kloster den Rücken zu kehren. Doch würde sie ihn damit auf eine Weise von sich abhängig machen, die nicht in ihrem Sinn ist. Sie schätzt ihre Freiheit und ist nicht bereit, diese so einfach wieder aufzugeben. Sie rät Matthias sich den Konsequenzen zu stellen und verspricht ihm, auf ihn zu warten. Mit dieser Hoffnung, die nichts anderes als eine – weltliche – Prüfung darstellt, stellt er sich seinem Kloster. Das natürlich um Schadensbegrenzung bemüht ist. Niemand soll etwas von ihrem abtrünnigen Bruder erfahren, um das schöne harmonisch idyllische Bild des Klosterlebens nicht zu beschädigen. Matthias’ Weigerung das milde Urteil anzunehmen und sein Beharren auf Austritt verstört. Es wird auf Zeit gespielt, in der Hoffnung, daß die Angelegenheit sich mit der Zeit von selbst erledigt.

Doch als der Betrüger verhaftet und Matthias durch den Gepäckschein für seinen Koffer in dem er seine Kutte verwahrt, den man bei dem Betrüger findet, in den Verdacht der Mittäterschaft gerät, es also wirklich darauf ankommt, Solidarität mit einem Mitbruder, christliche Nächstenliebe zu zeigen, auch und gerade mit einem Gestrauchelten, läßt ihn das Kloster ohne jeden Skrupel fallen, stößt ihn »[–] mit aller Feierlichkeit aus dem Orden [–]«, übergibt ihn der Staatsanwaltschaft und klagt ihn obendrein noch der Veruntreuung von Klostergeldern an. Hermann Hesse beschreibt hier anschaulich, wie christlich sich die sogenannten christlichen Institutionen verhalten, geht es um ihre ureigensten Interessen.

Matthias trifft es schlimmer als es seinen Verfehlungen angemessen wäre. Pater Matthias kam »[–] in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung und bekam eine schlimmere Suppe auszuessen, als er sich eingebrockt zu haben meinte. [–]« Zwar wird Matthias vom Verdacht der Mittäterschaft befreit aber auf Grund des öffentlichen Drucks zu einer strengen Strafe verurteilt.

Die Witwe verfolgt den Prozeß und ist empört über die Ungerechtigkeit, die dem armen Mann widerfährt. Sie beginnt einen aufmunternden Brief an ihn, den sie aber nicht abschickt, denn sie sieht keinen Grund an Matthias zu zweifeln. Sie ist bereit ihr Versprechen zu halten, sollte er die gestellte Prüfung bestehen.

Während er nun als Gefangener denselben Weg des kleinen Zuges geht, den er seinerzeit von seinem Fenster aus beobachtet hat, denkt er an jenen Tag »[–] vor seiner Schicksalsreise [–], da er noch aus dem Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und Mißmut hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln über sein mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm das halbzufriedene Damals keineswegs besser und wünschenswerter als das hoffnungsvolle Heute.« Denn anders als seinerzeit ist seine jetzige Gefangenschaft zeitlich begrenzt und an deren Ende steht die Freiheit und ein Leben an der Seite der schönen Brauerswitwe.

 

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