Von (scheinbaren) Tabubrüchen: Charlotte Roches »Feuchtgebiete«
von
Armin A. Alexander
Ich muß es zu geben, ich habe das Buch, das seit seiner Erscheinung wohl wie kaum ein zweites in der letzten Zeit die Medien – die Boulevardpresse wie das »seriöse«Feuilleton – beschäftigt, (noch) nicht gelesen. Deshalb hüte ich mich, ein Urteil über die literarischen Qualitäten zu fällen.
Nach den meist aufgeregten – besser aufgebauschten – Reaktionen, gewinnt man den Eindruck, daß die Autorin mitten hinein ins bürgerliche (Wespen-)Nest gestochen und Unaussprechliches zur Sprache gebracht hat. Doch was spricht sie wirklich an? Ein weiblicher Teenager liegt im Krankenhaus weil sie bei einer Intimrasur abgerutscht ist und äußert während ihrer Genesung offen und frei und in deutlicher Sprache ihre Gedanken über ihren Körper, ihre Sexualität. Also Dinge mit denen sich letztlich jeder jeden Tag beschäftigt.
Weitaus interessanter – ohne der Autorin nahe treten zu wollen – ist nicht das Buch, sondern die Reaktionen darauf. Mit dem Terminus »Tabubruch« ist man sofort zur Hand. Und denkt sogleich: Himmel, was wird da angesprochen! In welche menschlichen Abgründe wird da eingetaucht! Über was für ein verderbtes zügelloses Mensch wird da berichtet! Nun, die Abgründe sind bei näherem Hinsehen keine, sondern banaler Alltag. Alle Menschen haben eine Verdauung und alle Menschen haben Sex – mehr oder weniger häufig.
Aus der Aufgeregtheit der (Mainstream-)Presse, muß man somit schließen, daß deren Vertreter über diese Dinge ausschließlich im Medizinerlatein sprechen, eine sittsam umschreibende Hochsprache benutzen– »Schatz, ich würde dich gerne beschlafen, aber nur wenn es dir recht ist« – und lassen sich nicht nur vor dem Sex chemisch reinigen. Man muß schon über eine gewisse Weltfremdheit oder – weniger schmeichelhaft – Verklemmtheit verfügen, um in helle Aufregung zu geraten, wenn in umgangssprachlichen Ausdrücken, die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die sich über ihren Körper, ihre Sexualität Gedanken macht. Was im Prinzip jeder gesunde Mensch nicht nur in dem Alter macht und in der Regel in derselben Sprache tut. Wer das leugnet, war entweder nie jung oder gehört einer sehr alten Generation an, oder leidet – was wahrscheinlicher ist – unter einem schlechten Gedächtnis. Es sei denn er gehört zu den ganz wenigen Menschen, die nie jemanden hatten, mit dem sie sich offen austauschen konnten, was aber wohl seinen Grund haben dürfte.
Wieviel von dieser Echauffiertheit zum klappernden Handwerk gehört und wieviel ihre Ursache im Neid hat, läßt sich kaum festmachen. Zumindest hat es dem Buch zum Erfolg verholfen. Aber sicherlich nicht allein. Vermutlich sind einfach nur viele Leser froh, daß endlich mal ein Autor die alltäglichen Dinge beim – ungeschminkten – Namen nennt, mit Worten, die sie selbst benutzen. Die Surrealisten haben das auch schon einmal gemacht. George Bataille in seinem »Obszönen Werk«, dort aber gewaltsamer und damit ins Absurde hinein gesteigert. Aber das waren und sind die Lieblinge der Intellektuellen, da betrachtet man das in einem philosophischen Kontext – zurecht übrigens. Vielleicht hätte Frau Roche etwas philosophisches Geplängel einfließen lassen sollen, damit ihr Buch einen besseren Anklang im Feuilleton findet?
Oder ist am Ende das eigentlich schockierende, daß eine Frau hier eine eindeutige Sprache wählt? Weil offenbar immer noch das Vorurteil, Frauen seien empfindsame Wesen, die über solche Dinge nicht zu sprechen wagen und allenfalls darüber erröten, nicht auszurotten ist? Daß weibliche erotische Phantasien sich ausschließlich um weichgespülten Kuschelsex drehen? Spiegelt sich hier die Angst des – unsicheren – Mannes vor der selbstbewußten unabhängigen Frau wider?
Bei Pauline Réages literarischem Klassiker »Die Geschichte der »O«« – hier lange Jahre auf dem Index, im Ursprungsland Frankreich mehrfach preisgekrönt – der phantasievollen Geschichte einer erfüllten sadomasochistischen Liebe, bestritten selbst Größen wie Albert Camus, daß das Buch von einer Frau sei, denn eine Frau könne niemals so etwas schreiben. Gefangen in der Erziehung und gesellschaftlicher Vorurteile.
Ein Schelm wer diese Dinge in Beziehung zueinander setzt.
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Nachtrag Sommer 2012
Mittlerweile habe ich den Roman gelesen. Mein Eindruck ist ein überwiegend postiver. Nach der Lektüre sind mir die mit unter schroff ablehnenden Reaktionen noch unverständlicher. Es werden offensichtlich Dinge hineininterpretiert, die so gar nicht vorhanden sind, so daß man den Eindruck bekommt, es wurde teilweise nur oberflächlich gelesen. Im Grunde ist es die Geschichte einer ganz normalen jungen Frau, deren Eltern sich getrennt haben, mit dem üblichen daraus entstehenden zwiespältigen Gefühlen für die betroffenen Kinder. Es läßt sich höchstens ›bemägeln‹ daß die Gedanken, die Helen mitunter äußert, zu reif für eine Achtzehnjährige sind und in dieser Form mehr bei einer Achtundzwanigjährigen vermutet werden.
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