Heinrich Böll »Ansichten eines Clowns«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Hans Schnier wächst als zweitältestes Kind einer protestantischen Unternehmerfamilie auf, die ihren Reichtum in erster Linie der Braunkohlenabbau verdankt. Nach seinem Schulabbruch kurz vor dem Abitur versucht er sich als Clown und Pantomime. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten ist er sehr gefragt. Doch als ihn seine Lebensgefährtin Marie verläßt, nimmt ihn das derart mit, daß er Trost im Alkohol sucht. Er verpatzt immer häufiger seine Auftritte und nach dem er sich bei einem Sturz auf der Bühne derart am Knie verletzt, daß er für einige Zeit pausieren muß, fährt er in seine Heimatstadt Bonn zurück, in seine luxuriöse Wohnung, ein Geschenk seines Großvaters. Horst Schnier, dessen gesamtes Barvermögen sich im Augenblick auf eine Mark beläuft, stellt eine Liste von Personen zusammen, die auf unterschiedliche Weise mit seinem Leben verbunden sind. Er plant sie reihum anzurufen und um Geld zu bitten, als Überbrückung bis er sich so weit gefangen hat, daß er seinen Lebensunterhalt wieder aus eigener Kraft bestreiten kann. Zwischen den Telephonaten und einem Besuch seines Vater läßt er sein bisheriges Leben Revue passieren. Am Ende setzt er sich auf die Treppe des Bonner Hauptbahnhofs und beginnt zur Gitarre zu singen, während er auf die Rückkehr Maries von ihrer Hochzeitsreise wartet.

 

Heinrich Bölls Roman erregte bei seinem Erscheinen 1963 großes Aufsehen. Sein Protagonist lebt mit einer Frau zusammen, ohne daß beide weder vor dem Staat noch vor der Kirche rechtmäßig verbunden sind. Was über vierzig Jahre nach Erscheinen des Romans längst als mögliche Form partnerschaftlichen Zusammenlebens akzeptiert ist, galt damals noch als Ungeheuerlichkeit. Böll greift nicht nur die – katholische – lebensfremde, ja lebensfeindliche Moral an, die die Menschen ohne objektiven Grund in seelischen Konflikte stürzt (Vgl. auch: Im Tal der donnernden Hufe hier im Blog), sondern ebenso die Selbstgefälligkeit mit der sich Verbände – hier die katholischen – anmaßen über andere zu bestimmen, die Deutungshoheit beanspruchen ohne eine ausreichende demokratische Legitimation dafür zu besitzen.

Zwar wird vordergründig die Beziehung von Hans und Marie scheinbar akzeptiert, doch wird Marie hinter Hans’ Rücken systematisch moralisch unter Druck zu setzten, damit sie Hans bewegt, ihr »sündiges« Verhältnis zu legalisieren und Hans als Protestant einwilligt, die zukünftigen gemeinsamen Kinder katholisch erziehen zu lassen. Hans ist bereit Marie sehr weit entgegen zu kommen, einschließlich der katholischen Erziehung der Kinder, doch als er erkennt, daß die Hürden immer höher werden, zieht er eine klare Grenze, worauf Marie ihn verläßt und eine Ehe mit Heribert Züpfner eingeht, einem einflußreichen Katholiken.

Während Hans in seiner Wohnung sitzt und überlegt, wen er anrufen und um Geld bitten könnte, läßt er sein bisheriges Leben Revue passieren. Er erinnert sich daran, wie er seine ältere Schwester Henriette in den letzten Kriegsmonaten zu den Flaghelferinnen abfahren sieht, als handle es sich um einen Schulausflug. Henriette wird wenig später bei einem Angriff der Alliierten getötet. Dieses traumatische Erlebnis verändert den zehnjährigen Hans. Hans’ Mutter erklärt ihren Sohn Henriettes Weggang mit den Worten: »[–] Du wirst doch einsehen, daß jeder das seinige tun muß, die jüdischen Yankees von unserer heiligen deutschen Erde wieder zu vertreiben. [–]« Nach dem Krieg engagiert sie sich in einem Verein für Völkerverständigung. Doch sie ist nicht die einzige aus Hans’ Umfeld, die ihr Fähnchen politisch in den Wind hängt und ihre Begeisterung für das Naziregime als Irrtum bereut, was Hans zu der Überlegung veranlaßt: »[–] Große Sachen zu bereuen ist ja kinderleicht: Politische Irrtümer, Ehebruch, Mord, Antisemitismus – aber wer verzeiht einem, wer versteht die Details? [–]«

Ihren ersten gemeinsamen Sex erleben Hans und Marie voller Schuldgefühle, schließlich wurde ihnen die herrschende Ideologie, nach der Sex nur unter Eheleuten legitim ist, von klein auf eingetrichtert. Marie bricht die Schule ab. Maries Vater, der Hans sehr zugetan ist – ein »alter Linker« – nimmt Hans lediglich übel, daß er nicht die nötige Diskretion hat walten lassen – als Hans am folgenden Morgen das Haus verläßt wird er von Nachbarn gesehen, die sofort die »richtigen« Schlüsse ziehen.

Auf Hans Schniers Telephonliste befindet sich auch sein Bruder Leo, der zum Katholizismus konvertiert ist und sich zum Priester ausbilden läßt. Während Hans ein Kämpfer ist, der sich mit den Gegebenheit nicht abfindet, unterwirft sich Leo kritiklos den Regeln des Priesterseminars. Nach dem Besuch seines Vater erkennt Hans, wie wenig Vater und Sohn sich eigentlich kennen.

Hans Schniers Dilemma ist seine Konsequenz, während die meisten in seiner Umgebung ihre Einstellungen ändern wie es gerade opportun ist, beharrt er auf seiner Treue zu Marie. Und definiert damit den Begriff Ehe als etwas Absolutes, als ein Versprechen, das die Partner einander freiwillig geben und das keine institutionelle Sanktionierung benötigt. Er verweigert sich jeder Doppelmoral, die die anderen pflegen – z. B. hat sein Vater seit Jahren eine Geliebte und die katholischen Verbandsvertreter billigen das unter bestimmten Umständen auch. Hans, der in »Wilder Ehe« lebende ist in Wahrheit moralischer als die Moralisten und christlicher als die Verbandskatholiken, da der sich dieser Probleme bewußt ist.

Hans Schnier ist entschlossen eine endgültige Klärung seiner Beziehung zu Marie herbeizuführen. Er weiß, daß Marie bald von ihrer Hochzeitsreise mit ihrem Mann zurückkehrt. Er will sie in seiner Rolle als Clown vor dem Bonner Hauptbahnhof erwarten.

Er bereitet seinen Auftritt mit derselben Akribie vor, mit der bisher alle Nummern einstudiert hat. Er entscheidet sich nach ausführlichem Abwägen bewußt gegen die ursprüngliche Idee die Lauretanische Litanei zu singen, da er die Gefahr erkennt von bestimmten Gruppierungen instrumentalisiert zu werden. Er korrigiert nicht die schlecht haftende und teilweise abgebröckelte weiße Schminke in seinem Gesicht. Er überlegt minutiös, wie er den Hut plazieren muß und die Lockmünze. Er ist sich auch der Gefahr bewußt, daß er möglicherweise durch diesen Auftritt für seinen Agenten nicht mehr vertretbar ist. Doch für Hort Schnier ist der Auftritt als Straßenmusikant der letzte Versuch, Marie wiederzugewinnen und festzustellen, ob er ihr noch etwas bedeutet, denn »[–] Wenn Marie mich so sah und es dann über sich brachte, ihm [Züpfner] die Wachsflecken aus der Malteserritterunform zu bügeln – dann war sie tot, und wir waren geschieden. Dann konnte ich anfangen, an ihrem Grab zu trauern [–]«. Erst wenn er sich darüber Klarheit verschafft hat, wird er seinen Lebensweg, seine Karriere als Clown fortsetzen können.

 

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