Kurzes #85 – Der erste gemeinsame Abend

von
Armin A. Alexander

Fortsetzung von »Gespräch im Café«, »Gero und Daphne«, »Daphne« und »Die neue Zimmerwirtin«.

 

Am Abend vor seiner Abreise mit Daphne nach Venedig nahm er zum ersten Mal die Einladung seiner Wirtin zum Tee an, schon allein um sich während der Tage in Venedig Daphnes Kommentare diesbezüglich zu ersparen. Seine Wirtin hatte sich Mühe gegeben, eine so anheimelnde Atmosphäre wie möglich zu schaffen, hatte sich in schlichte Eleganz gekleidet, ein dezentes Make-up gewählt, wohl wissend, daß ein allzu sexy wirkendes Äußeres, selbst wenn ihr danach gewesen wäre, ihn wie viele Männer nur verschreckt hätte, lediglich bei der Wahl der Absatzhöhe ihrer Schuhe war sie forsch vorgegangen. Das Teegeschirr und das liebevoll arrangierte, eindeutig selbstgemachte Gebäck verrieten Geschmack. Trotzdem schien das Gespräch nicht so recht in Gang kommen zu wollen. Gero bereitete es Mühe, es nicht als Verpflichtung aus purer Höflichkeit gegenüber seiner Vermieterin zu sehen, obwohl er sich ja durchaus erotisch von ihr angezogen fühlte, und mehr als einmal fand, daß ihre vollen weichen, vielleicht ein wenig zu üppigen, in einem dezenten warmen Erdton geschminkten Lippen zum Küssen einluden, er oft den Blick bemüht unauffällig auf ihren schönen Beinen ruhen ließ, wie auch auf ihren mütterlich üppigen Busen, den sie wie üblich durch ein engangliegendes, hochgeschlossenes Oberteil betonte. Hatte er das Gefühl, allzu offensichtlich auf ihre Beine oder ihr Dekolleté zu ›starren‹, verfing sich sein Blick wie von selbst auf ihre schönen schlanken gepflegten Hände mit den mehr als halblangen, wie meist in einem warmen Erdton lackierten Nägeln. Ihre warme Altstimme erschien ihm als Labsal für die Ohren.

Sie spürte seinen inneren Zwiespalt und mußte ein leichtes Schuldgefühl diesbezüglich unterdrücken, dennoch ließ sie sich nicht entmutigen.

Vielleicht lag es am ausgezeichneten Tee, der Atmosphäre oder dem schmackhaften Gebäck, daß er dann doch zusehends entspannter wurde, und das Gespräch langsam in Schwung kam. Als er für sich feststellte, daß er mit sichtlichem Behagen den Blick auf ihren schönen Beinen ruhen ließ und ein mütterlich üppiger Busen unter einem derart engen Oberteil aus weichem hochwertigen Stoff ein wundervoller Anblick ist, und sie sich unter seinen bewundernden Blick wohlfühlte, erschien es ihm bereits nicht mehr so sehr als Verpflichtung. Wie schließlich das Gespräch auf Heinrich Mann – den sie beide gleichermaßen schätzten – und speziell auf den Professor Unrat kam, war die anfängliche Gezwungenheit bereits weitgehend verschwunden.

»Ich finde, in welchen Wahn sich Unrat hineinsteigert, läßt sich gut daran erkennen, daß er ausgerechnet Lohmann, denjenigen seiner Schüler, der am wenigsten gegen ihn hat, als seinen größten Gegner ansieht«, bemerkte Gero, erfreut nach langer Zeit jemandem begegnet zu sein, mit dem er über eines seiner Lieblingswerke reden konnte.

»Wahn finde ich ein wenig übertrieben, vielmehr scheint es, daß Unrat Lohmann fürchtet, weil dieser ihn durchschaut, und der einzige unter seinen Schülern ist, der ihm ebenbürtig ist und tatsächlich gefährlich werden könnte«, entgegnete sie.

»Letztlich ist auch Lohmanns Weltläufigkeit nur Fassade, denn am Schluß, als Unrat ihm im Affekt die gefüllte Brieftasche wegnimmt, holt Lohmann sie sich nicht einfach wieder – wie es naheliegend wäre –, sondern ruft kleinbürgerlich nach der Polizei.«

»Es ist aber nur konsequent. Eine tolerante und aufgeschlossene Figur würde nicht in das Handlungsschema passen, zumal das kleinstädtische Milieu, das Heinrich Mann beschreibt, kaum eine solche Person würde hervorbringen können. Aber auch Lohmann bringt die Aktion, die ihn letztlich intellektuell überfordert – wie Heinrich Mann ja auch betont –, kein Glück, denn nicht nur Unrat wird verhaftet, sondern auch Rosa Fröhlich, an der Lohmann ja offen interessiert zu sein scheint, andernfalls wäre er kaum auf den Gedanken gekommen, ihre Schulden zu übernehmen. Lohmann bekommt zwar sein Geld zurück, doch ist gerade darum wohl erst der wirklich Geschädigte.«

»Da muß Ihnen zustimmen.«

»Letztlich bekomme alle ihr Fett weg. Die Damen der sogenannten ›Guten Gesellschaft‹ unterscheiden sich in nichts von denen der Halbwelt – nebenbei bemerkt gibt es ohnehin keinen wirklichen Unterschied zwischen anständigen Frauen und den ›anderen‹. Ich bin mir sicher, daß nicht wenige sogenannte ›anständige‹ Frauen im Grunde ihres Herzens ›Halbweltdamen‹ sind, die sich nur nicht trauen, diese Seite herauszulassen. Gerade zu jener Zeit achteten Frauen doch sehr auf die Solvenz ihrer zukünftigen Ehemänner, besser gesagt, blieb ihnen oft auch gar nichts anderes übrig, wenn sie im weitesten Sinn zum Bürgertum gehörten, als sich an den Meistbietenden zu verschachern, denn die Möglichkeiten, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, waren gering bis gar nicht vorhanden, wollte sich eine Frau die Achtung der Gesellschaft erhalten. Sich einen Lebenspartner nach der Höhe seines materiellen Besitztums auszuwählen, ist schließlich nichts anderes als Prostitution. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Prostitution und würde nie mit der moralischen Keule argumentieren, solange es eine freie Entscheidung ist. Ich bin mir sicher, daß es nicht wenige Frauen gibt, denen die Vorstellung Sex gegen Entgelt und daß sie für Geld für jeden zu haben sind, gefällt.« Ihr besonderes Lächeln verriet ihm recht freizügig, daß sie sich das für sich selbst auch vorstellen könnte. Er erwiderte nichts darauf, da ihm dieses Thema schon immer zwiespältige Gefühle verursacht hatte. Abgesehen davon spürte er auch, daß er bei einer Diskussion mit ihr bei diesem Thema sicherlich den kürzeren ziehen würde. Sie rechnete auch mit keinem Einwurf seinerseits, sondern kam auf das eigentliche Thema zurück: »Bei Dora Breetpoot ist es ein offenes Geheimnis, daß keiner so recht weiß, wer die Väter ihrer Kinder sind. Bei einem Kind, das sie aktuell erwartet, wird gemunkelt, daß vom Assessor Knust oder vom Offizier von Gierschke, aber auch von ihrem Mann sein könnte, letzteres wird aber nicht als sehr wahrscheinlich angenommen. Es scheint nicht sonderlich zu interessieren, mit wem sie herumvögelt, auch wenn es, bei ihrer aktuellen Schwangerschaft mehrere Männer infrage kommen, einschließlich ihres Mannes. Diesem scheint es gleichgültig zu sein, daß seine Frau relativ offen in der Gegend herumvögelt. Aber auch ihre beiden allseits bekannten Liebhabern scheint das wenig zu interessieren. Da Heinrich Mann keine gesellschaftlichen Konsequenzen für Dora schildert, kann davon ausgegangen werden, daß es in anderen guten Familien der guten bürgerlichen Gesellschaft ebenso ist. Bei Fontanes Effi Briest sieht das noch anders aus, da wird Effi ihr Verhältnis zum Verhängnis.«

»Nicht eigentlich das Verhältnis, sondern daß es durch einen unglücklichen Zufall herausgekommen ist. Wobei Fontane die Entwicklung ein wenig überzeichnet, denn dem realen Vorbild seiner Effi ist zumindest ein frühes Dahinscheiden erspart geblieben.«

»Das schon, aber ich finde, ein weniger dramatisches Ende hätte die gesellschaftliche Situation, in der so etwas überhaupt geschehen kann, verharmlost. Man hätte dann mit beruhigtem Gewissen sagen können, traurig, aber es gibt schlimmeres.«

»Das ja. Andererseits bedeutete gesellschaftliche Ächtung und Entzug des Sorgerechtes für eine Frau des Bürgertums den gesellschaftlichen Tod und mit dem leiblichen Tod der Protagonistin wird das verdeutlich.«

»Das sehe ich auch so, aber wir schweifen ab. – Andererseits macht mir der Umstand, daß Dora Breetpoot wechselnde Liebhaber hat, sie mir wiederum sympathisch. In Unrats Villa gehen ja nicht nur Lebedamen ein und aus, sondern ebenso die Frauen und Töchter der ersten Bürger des Ortes, von denen sich während Maskenfesten und anderen Gelegenheiten einige schwängern lassen – man stellt sich dabei gerne plastisch vor, wie in dunklen Ecken oder verschwiegenen Zimmer, die nach außen hin beherrschten Damen und Töchter es voll von heißem Begehren gar nicht erwarten können, vom erstbesten Mann gevögelt zu werden, vielleicht lassen sich einige sogar von verschiedenen Männern mehr oder weniger gleichzeitig vögeln, so daß auch bei ihnen niemand sagen kann, wer der tatsächliche Erzeuger ihres Nachwuchses ist«, ein sardonisch lüsternes Lächeln umspielte ihren Mund, was in ihm ähnliche Bilder wachrief und ihm ein vergleichbares Lächeln auf die Lippen zauberte. Er wunderte sich dabei zugleich, daß ihm beim Lesen des Unrat bisher nie vergleichbare Gedanken kommen waren, dabei hatte er ihn bisher mindestens fünfmal gelesen.

»Jedenfalls wird das mit der lapidaren Feststellung kommentiert, daß sie bereits vor der Sommersaison aufs Land gefahren sind. Womit sich erneut zeigt, daß zwischen Lebedamen und den ›anständigen‹ Frauen der Gesellschaft kein Unterschied besteht. Wobei ich mir vorstellen kann, daß das Gebaren mancher Dame der guten Gesellschaft, selbst abgebrühten Lebedamen noch die Schamröte ins Gesicht treiben konnte. Wie es heißt so schön? Gelegenheit macht Liebe. Dabei ist es eigentlich vollkommen unerheblich, was auf diesen Festen oder anderswo getrieben wurde und wird, solange sich alles im Rahmen des sozial verträglichen abspielt. Unerträglich ist immer nur die Scheinheiligkeit, auf der die Anständigkeit aufgebaut wird.«

»Da kann ich nur beipflichten. Zudem gelingt es Unrat einige zu Fall zu bringen, darunter seinen heuchlerischen Kollegen, der seinerzeit dafür gesorgt hat, daß sein Sohn wegen seiner unschicklichen Liebschaft aus der Stadt ›vertrieben‹ wurde. Irgendwie scheinen alle Täter und Opfer zugleich zu sein. Eben die tiefere Erkenntnis, daß die Menschen sind, was ihre Umgebung aus ihnen macht. Und wehe demjenigen, der es wagt, aus dieser Welt auszubrechen und ihr gar noch den Spiegel vorzuhalten.«

»Alles in allem eine wunderbare Satire auf die Bigotterie der damaligen Zeit, die anständigen Bürger, die nur darum anständig sind, weil ihnen die Gelegenheit zum Laster fehlt. Sobald diese aber gegeben ist, wird sie sofort ergriffen, und die Schuld nicht bei sich selbst, sondern bei demjenigen gesucht, der ihnen diese Möglichkeit bietet. Sie sind zu feige, zu ihren vermeintlichen – sexuellen – und anderen Lastern zu stehen«, schloß Geros Wirtin. »Darf ich Ihnen noch einen Tee anbieten?«

»Ja, gerne«, erwiderte er aufgeräumt, und wunderte sich nicht im geringsten, daß er sich in der Gegenwart dieser ausnehmend hübschen und belesenen üppigen Frau wohl fühlte.

Es war fast zwei Uhr in der Nacht, als sie sich trennten. Er versprach, sobald er von seiner Reise zurück sei – er hatte ihr lediglich gesagt, daß er für einige Tage in Venedig sei, aber nicht in wessen Begleitung – erneut mit ihr Tee zu trinken, und fühlte sich in keiner Weise verpflichtet dazu, sondern freute sich auf eine eigene Weise bereits darauf. Ihr Händedruck dauerte weitaus länger, als zu einem herzlichen Abschied notwendig gewesen wäre, und seine auf sie bezogenen Gedanken waren zum ersten Mal offen erotischer Natur, wenn er auch – noch – die Möglichkeit ausschloß, daß irgend etwas davon einen realen Bezug haben könnte.

Sie ging im Bewußtsein zu Bett, daß das Eis zwischen ihnen offenkundig gebrochen war. Noch mehr jedoch ließ ihr Herz die Beobachtung höher schlagen, daß er sich an ihrem mütterlich üppigen Busen – schließlich war sie sehr in ihn verliebt und stolz auf ihn – er sich an ihrer wohl geformten Üppigkeit überhaupt nicht hatte satt sehen können. Er gehörte offenkundig zu den Männern, einschließlich ihres verstorbenen Mannes, auf die eine üppige Frau im allgemeinen und große Brüste im besonderen sexuell stark erregend wirken. Nachdem wie er sie den ganzen Abend über angesehen hatte, waren ihre letzten Zweifel zerstreut, daß er sexuell üppige Frauen bevorzugte.

Vor dem Einschlafen stellte sie wiederholt fest, daß die Gedanken an ihren verstorbenen Mann bereits seit längerem nicht mehr von Trauer begleitet waren, sondern sie in ihnen immer mehr angenehme Erinnerungen an eine schöne, die vielleicht schönste Zeit ihres Lebens sah. Manchmal erfüllte sie diese Erkenntnis für einen Augenblick ein wenig mit Traurigkeit, bis sie erkannte, daß das ein durchaus normaler Vorgang war und ihr verdeutlichte, daß sie nicht Gefahr lief, sich in der Vergangenheit zu verlieren.

Er verbrachte mit Daphne einige schöne Tage in Venedig, während der er so gut wie nicht an seine Wirtin dachte. Zum Glück für sie beide regnete es die meiste Zeit. Wie angekündigt, gab es keinen SM, dafür ein wenig Fetisch, wobei bei einer Frau wie Daphne fetischistische Elemente immer vorhanden waren, und viel lustvollen Sex, der auch dem unbedarftesten Beobachter aufgezeigt hätte, wie sehr er den Sex mit einer schönen üppigen Frau genoß. Mehr schemenhaft drängte sich ihm ins Bewußtsein, daß er Daphne mitunter stellvertretend für seine Zimmerwirtin vögelte.

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